23.09.2020Khamlia Teil 2
Ich sitze immer noch hier und trinke Tee. Eigentlich hatte ich mir gestern ganz fest vorgenommen, wegzufahren. Eigentlich. Es ist eine neue Touristengruppe aus Spanien angekommen. Die Nacht war kalt. Drei Decken waren nicht genug, aber mittlerweile ist es warm geworden. Ich höre aus dem großen Lehmhaus merkwürdige Musik. Die Türen sind zu. Ich denke mir nichts dabei, denn ich möchte höflich sein und das Glas (ja, marokkanischen Tee trinkt man aus Gläsern) zurückbringen. Ich betrete das Haus ohne auf Mohameds Protest zu reagieren. Drinnen herrscht eine merkwürdige Atmosphäre. Es ist dunkel und der Geruch von Räucherstäbchen erfüllt den Raum. Aziz sitzt auf der Bank, die einmal an der Wand entlang um den ganzen Raum führt und singt. „Bitte mach keine Bilder“ sagt er. In der Mitte des Raumes sitzen Menschen im Kreis. Gnauer Musiker, alle weiß gekleidet, sitzen auf der einen Seite, die Touristen auf der anderen. In der Mitte tanzen zwei Gnauer. Ihre Bewegungen wirken wild und unkontrolliert. Die Musik wirkt unheimlich auf mich, wenn die Musiker die Stimme erheben, geht ihr Gesang durch Mark und Bein. Plötzlich fällt einer der Tanzenden. Und schreit. Und heult. Nach einer Art Krampf liegt er flach auf dem Boden. Ein Schluchzen ist zu hören. Er wird mit einem Tuch bedeckt. Mehr nicht. Niemand scheint sich weiter um ihn zu kümmern. Auch der zweite Mann fällt. Auch er schreit und weint. Und liegt. Die Musik verändert sich. Wo eben ein Höhepunkt war, wird es jetzt leise, sanft. Irgendwann kriechen die beiden Männer zurück in den Kreis. Wieder verändert sich die Musik . Sie ist wieder rhythmischer. Einige der Spanier bewegen ihren Kopf wie in einer Trance hin und her. Eine Frau steht auf. Sie tanzt unkontrolliert. Ihre Jacke fällt auf den Boden, doch die Frau schein es nicht zu bemerken. Jemand hebt die Jacke auf. Auch diese Frau fällt irgendwann. Auch andere Menschen fangen an, ihren Kopf im Rhythmus zu bewegen, bis sie aufstehen und tanzen. Auch ich bewege mich unwillkürlich. Meine Gedanken kreisen. Ich kann sie nicht kontrollieren. Ich erinnere mich an Momente und Situationen, die ich längst verdrängt haben möchte. Von dem, wie ich mich in Laos in einer Höhle verlaufen habe und meine Taschenlampe ausging, von dem, wie ich in Sibirien einen Abgrund runtergestürzt bin. Alle Bilder kommen ganz diffus wieder hoch, unterbrochen von philosophischen Gedanken und Fragen. Mir wird auch unheimlich traurig zu Mute. Ich kann es nicht ändern, denn ich habe meine Gedanken nicht unter Kontrolle. Traurig, aber gleichzeitig will ich nicht, dass diese Musik aufhört. Es werden Milch und Datteln an alle verteilt. Ich weis nicht, wie lange es so ging. Jemand sagte später, drei Stunden. Irgendwann werden die Türen geöffnet und Licht dringt ein. Es ist still. Die Spanier beginnen sich leise zu unterhalten. Sie berichten von einem starken inneren Druck, der sich nach der Trance auflöst und dann von einem Gefühl der Erleichterung und Leichtigkeit. Ich flüchte mich, von Gefühlen überwältigt nach draußen. Irgendwann kommt Aziz und sorgt sich um mich. Er sieht, dass es mir nicht gut geht. Ich spüre die Masse an Lebenserfahrung und Stärke, die da neben mir sitzt. Er erklärt mir, was ich da gerade gesehen habe. Es ginge darum, böse Geister, Mluks, aus den Menschen zu vertreiben und sie zu heilen. Alle diese Menschen, die hier in Trance gefallen sind seien vorher auf verschiedene Weise krank gewesen. Wer sich da bewegt seien nicht die Menschen selber, sondern die Geister in ihnen. Er erklärt mir auch, dass es einmal im Jahr ein großes Fest, Sadaka, im Juli gäbe, zu dem Menschen kommen um Heilung zu suchen. Dort wird eben diese Trancemusik gespielt. Dann wird auch Essen, Couscous für alle zubereitet. Die Zutaten dafür werden vorher durch Spenden gesammelt. Durch den Tourismus habe das Fest an Bedeutung gewonnen. Trotzdem findet hier nichts absichtlich für Touristen statt. Hoffentlichbleibt es auch so, denke ich mir.