27.11.2020Khamlia Teil 5
Ich wache von einem Klopfen am Fenster auf. Unwillig drehe ich mich auf die andere Seite. Nur unter den zwei Decken ist es warm. Doch das Klopfen bleibt hartnäckig. „Oui“ rufe ich nach draußen und ziehe mich schnell an. Am Vorabend habe ich mich auf einer Mischung aus Zeichensprache, Arabisch und Französisch mit Rachea Ali zum laufen verabredet. Ich schlüpfe aus dem Zimmer in die Kälte. Rachea Ali wartet lächelnd, wie immer, hinter dem Haus. Sie trägt unter ihren Ballerinas aus Gummi warme Plüschsocken. Ihre geschmackvolle Kleidung und ihr Kopftuch sind mit einem quitschbunten Bademantel bedeckt. Sie sorgt sich, ob mir nicht kalt sei. „la baas“ – es geht – , antworte ich. „Yallah“ Wir einigen uns auf eine Richtung und laufen zusammen den Dünen entgegen. Rechts von uns geht die Sonne auf. Wir laufen vorbei an einigen verfallenen Häusern, an deren Mauern sich Saharasand sammelt und begegnen Eselspuren. Irgendwann wird der feste Boden zu Sand. Rachea zeigt mir den Wasserturm, der Khamlia mit Grundwasser versorgt. Trotz ihrer unpassenden Schuhe bewegt sie sich geschickt im Sand. Sie pflückt die wenigen Kräuter, die um den Wasserturm herum wachsen und macht mir klar, dass sie für die Suppe heute Abend seien. Auf dem Rückweg begegnen wir einer Frau, die gerade auf dem Boden an die Hausmauer gelehnt sitzend, Brot für die Schafe sortiert. Sie grüßt uns lächelnd. „Wie geht’s“ – „gut“ -” hast du gut geschlafen?“ – „es geht“ – „Ansonsten alles gut“ – „ja“. Smaltalk ist hier enorm wichtig, direkten Konflikten geht man jedoch gerne Mal aus dem Weg. Rahea winkt mich in das Haus der Familie Oujeaa. Das Haus ist geräumig und nahezu unmöbliert. Das große Wohnzimmer ist in zwei Teile geteilt, ein Teil für Männer, ein Teil für Frauen. Dabei ist die Einteilung nicht strikt. Männer und Frauen sitzen hier oft genug am einen Tisch – wobei, ob das wohl Zufall ist, dass der Fernseher aus der Seite der Männer hängt? – Ich helfe Rahea noch zwei Plastikwannen in die Küche des Camps zu tragen. Die Arbeit in der Küche gibt den Frauen einen Verdienst und somit eine gewisse Unabhängigkeit, die sie vorher nicht hatten. Und ist weit unbeschwerlicher, als die Arbeit in der Minen früher. Dann hohle ich schnell mein Notizbuch, denn ich bin mit einem Lehrer in der Schule verabredet. Ich bringe ihn Deutsch bei und er mir Arabisch und Französisch. Die Schule ist das einzige bunt bemalte Gebäude in Khamlia. „Schule“ steht auf vier Sprachen, Arabisch, Amazigh, Französisch und Spanisch, am Eingang geschrieben. Dadrüber flattert die rote Flagge Marokkos. Auf dem Schulgelände wachsen einige trockene Dattelpalmen und ein Baum. Zwei vereinzelnd stehenden Klassenzimmer und das Haus des Lehrers Samir, nicht größer als ein Klassenzimmer befinden sich auf dem Schulgelände. Bunt bemalte Reifen zieren den Eingang. Der Lehrer, der diese Reifen bemalt hat, ist vor kurzem bei einem schlimmen Busunglück verstorben. „Er, Houcine hat mehr gemacht, als wir alle hier.“, hat mir Samir, der Lehrer mit dem ich verabredet bin, erzählt. So habe ich ihn auch kennengelernt, als intelligenten, aktiven Mann, mit viel Verständnis für die Welt. Offen und direkt, immer auf der Suche nach Austausch. Wenn jemand einen persönlichen Rat suchte oder eine vertrauliche Bitte hatte, war Houcine immer der erste Ansprechpartner. Er fehlt. Überall. Im September hatte es viel geregnet und ein Bus war von einer Wassermasse einen Fluss runtergespült worden. Er war der letzte der gefunden wurde. Doch es ist erstaunlich, wie schnell nach so einer Tragödie der Alltag weitergehen muss, als wäre nichts gewesen.
Samir winkt mich ins Klassenzimmer. Es dunkel und kalt, wie die meisten Räume hier. Die Kinder stehen auf und murmeln etwas, als ich mit Salam ´aleikum grüße. Das Klassenzimmer wirkt, trotz der Dunkelheit liebevoll eingerichtet. Überall hängen bunte Plakate an den Wänden. Sie zeigen Bedeutungen von Wärtern aus Spanisch, Französisch und Amazigh. Über der Tafel, hängt, wie in der jeder offiziellen Einrichtung ein Portrait des Königs. In Plastikkörben liegt auf jedem Tisch ein Set Filzstifte. Vermutlich eine Spende von Touristen. Die Jungen haben einen dunkelblauen Kittel an, die Mädchen eine weiße Bluse. Die etwas älteren Mädchen tragen ein Kopftuch. Samir gibt mir die Hand. Er ist ein kräftiger Mann mit intelligentem, charakterstarken Gesicht. Auch er trägt einen weißen Kittel und die graue Adidas-Joginghose will so garnicht zu seiner Ausstrahlung passen. Der Unterricht wirkt sehr geordnet, die Schüler sind diszipliniert. Samir spricht leise zu ihnen. Er lässt jeden einzelnen Schüler vorlesen, während ich ihm deutsche Verben übersetze. Neben guter, leuchtender Augen fällt mir aber auch manchmal Unsicherheit in den Augen der Schüler auf. Und vielleicht ist es nur ein Zufall, dass die Gnawa-Kinder selbstbewusster wirken. In der Pause beschwert sich Samir über das kurze Gedächtnis der Schüler. Seitdem es Smartphones gebe, sagt er, könnten sich die Schüler kaum noch konzentrieren und schon garnicht etwas merken. Früher Wäre es unmöglich gewesen, dass ein Schüler so viele Fehler macht. Und das stimmt. Immer wieder sehe ich Rahmas Töchter Wiam und Assia mit dem Handy ihre Mutter spielen und Zaid hat das W-lan Passwort geändert, damit seine Kinder nicht ständig mit dem Handy Spiele spielen. Die Entwicklungen sind also am Ende überall auf der Welt die selben. Wie es wohl weitergehen wird?